Zwischen Auftragskillern und Obdachlosen

Auf einer Busfahrt voller Begegnungen fragt sich unser Autor: Wer sind wir wirklich? Und was ist eine gelungene Darstellung unserer Persönlichkeit?

Es wäre vermutlich leichter gewesen, wenn ich an diesem Morgen nicht wie ein Packesel beladen mit meinem Rucksack, unzähligen Taschen und der FFP2 Maske im Gesicht den Berg zur Haltestelle hoch gesprintet wäre. Der Bus ist da, der Sauerstoff nicht mehr. Und so langsam frage ich mich, wie groß die Anstrengung wäre, meinen Eltern per WhatsApp-Nachricht für heute einfach abzusagen. Doch mit dem Öffnen der Busstüren siegt mein schlechtes Gewissen.
Als ich das letzte Mal für einen Besuch vor ihrer Tür stand, sang Mariah noch „All I Want For Christmas“ in Dauerschleife und alles, was ich zu Weihnachten wollte, war ein negativer Corona-Test.

Tja, hier schwitze ich nun bei gar nicht so angenehmen 25 Grad an irgendeinem Sonntag mitten im April, während ich wild gestikulierend versuche, den Fahrer auf mich aufmerksam zu machen. Der Bus bremst schlagartig ab, die Türen gleiten auf und ich springe hinein.

Drinnen ist es warm und recht leer. Ich schmeiß’ meine Sachen auf die nächste Sitzgruppe, pflanz’ mich hin und versuche, ruhig zu atmen. Vor mir sitzen zwei Personen in viel zu dicken Jacken. Eine trägt sogar eine Mütze. Beide haben Masken an. Kein einziger Gesichtsmuskel ist zu erkennen. Unbemerkt beuge ich mich nach vorne, um einen besseren Blick zu erhaschen. Doch die beiden Knäuel aus Daunen, Wolle und Jeans lassen sich nicht weiter identifizieren.

Knäuel Nummer eins ist bunt. Rote Jacke, blaue Jeans, braune Schuhe, gelbe Mütze. Alles wirkt chaotisch und trotzdem gewollt. Man hat das Gefühl, als ob sich Knäuel Nummer eins keine Gedanken über die Kleidung gemacht hätte und dennoch weiß man genau, dass ein gewisser Aufwand betrieben wurde. In meinem Kopf spielen sich verschiedenen Szenarien ab: Jemand auf dem Weg in die Stadt, um sich die Beine zu vertreten? Kunst im Hauptfach mit gelegentlichen kreativen Ausbrüchen in diversen Skizzenbüchern, die sich in der Tasche auf dem Boden befinden. In drei Jahren erfolgreich unterwegs mit mehreren Ausstellungen. Preise und Auszeichnungen im Überfluss. Oder vielleicht steht die Person einfach nur auf bunte Klamotten?

Ein einheitliches Kopfnicken aller Passagiere sagt uns, dass wir die nächste Haltestelle erreicht haben. Die Türen gleiten auf und eine Frau betritt den Bus. Sie ist recht groß, schlank und fast komplett in schwarz gekleidet. Ihre Augen wandern von links nach rechts und schließlich lässt sie sich eine Reihe vor mir auf einen der Sitze fallen, ehe der Bus wieder anfährt. Ein lautes Klingeln durchbricht die Stille. Sichtlich gestresst kramt die Frau in ihrer Tasche, fischt ihr Handy heraus, nimmt den Anruf entgegen und fängt an in schnellem Französisch zu reden. Ich verstehe nichts. Die Worte sprudeln in enormer Geschwindigkeit aus ihrem Mund. Mit der freien Hand klammert sie sich verbissen an ihrer Tasche fest, während sie sich bemüht, die Stimme gesenkt zu halten. Keine Ahnung, ob sie gerade einen Angestellten feuert oder mit ihrer Mutter redet. Die Gedankenspirale in meinem Kopf dreht sich von Neuem: Vielleicht hat sie einen Auftrag von ihrem Boss bekommen. Die zu beschattende Person habe sich von ihrem Aufenthaltsort wegbewegt und sei nun drauf und dran, das Land zu verlassen. Sie solle sich schleunigst an deren Fersen heften und die Person, wenn nötig, eliminieren.

Auf einmal bricht ihre Stimme ab. Die Hand mit dem Telefon sinkt zu Boden. Kurz bevor der Anruf beendet wird, sieht man den Namen „David“ über den Display flimmern. Der Bus bremst ab und die Frau steht auf. Noch bevor die Türen sich öffnen, reißt sie sich die Maske runter. Zum Vorschein kommt ein kleines, zerbrechliches Gesicht. Eine Träne läuft ihr über die Wange. Hektisch fange ich an, in meinem Rucksack nach einem Taschentuch zu suchen.
Der Bus kommt zum Stehen, die Türen gehen auf und die Frau steigt aus. Das Handy immer noch in der Hand steht sie dort draußen ganz alleine. Der Bus fährt an, meine Suche ist erfolglos. Alles war mir bleibt, sind mein falscher Eindruck und Mitleid.

Endhaltestelle. Ich schnappe meine Sachen und drehe mich zur Tür um. Vor mir die beiden Knäuel von vorhin. Mit der Art und Weise, wie sie beladen sind, machen sie mir deutlich Konkurrenz. Aus einer der Taschen fällt eine Plastikflasche. Ich hebe sie auf und gebe sie den beiden zurück. Einer von ihnen bedankt sich in gebrochenem Deutsch und steckt die Flaschen zurück in die Tasche, die, wie ich jetzt erst feststelle, voller Leergut ist.
Wir steigen aus und ich erkenne eine Decke, einen Schlafsack und ansonsten nicht viel. Mir fällt auf, dass die Klamotten, die sie tragen, gar nicht so gut aussehen, wie ich zunächst angenommen hatte. Ein unangenehmes Gefühl macht sich in mir breit. Ganz plötzlich. Ähnlich wie ein Schalter, der sich in meinem Kopf von alleine umgelegt hat, von dem Moment an, als ich mit den beiden in Kontakt getreten bin. Dabei kenne ich nicht mal ihre Namen. Ich möchte etwas sagen, mich für meine dummen Gedanken entschuldigen, doch ich weiß nicht, wie es anstellen soll. Draußen an der Haltestelle trennen sich unsere Wege. Die beiden durchsuchen eine Mülltonne in der Nähe und ich mache mich auf den Weg zum Bahnhofsgebäude.

Auf halben Weg komm ich an einem Schaufenster vorbei. Ich bleibe stehen und betrachte mich selbst. So wirklich viel Mühe hab ich mir heute Morgen nicht gegeben. Eine schlecht sitzende Hose, ein Shirt, was ich gerade so vor der Wäsche gerettet habe und eine viel zu große Jacke, die einfach alles verdeckt.
Ist das wirklich eine gelungene Darstellung meiner Persönlichkeit? Keine Ahnung, und eigentlich ist das ja auch egal. Ich weiß auch nicht, was jemand von mir denkt, wenn er mich so sieht. Aber wie wichtig kann das schon sein, wenn man am Ende doch immer falsch liegt?

Autor: Simon Lauer